„ Das Singuläre ist von vornherein jeder einzelne, folglich jeder mit und unter allen anderen.“ Jean-Luc Nancy
Dieses Zitat möchte ich in meiner kurzen Analyse vom Zwischenmenschlichen auf die Vorgehensweise in der heutigen Architektur- und Baukultur anwenden, wie ich es sehe.
Ich fange mit einem Individuum an. An sich ist der Mensch ein soziales Wesen und braucht somit andere Menschen, um sich selbst zu verstehen. Ein Mensch kann ein Individuum sein, (lateinisch individuum ‚Unteilbares‘) also bei sich selbst bleiben und somit sein eigenes Ego beherrschen. Zu den Ritualen eines solchen Individuums gehört auch ein Selbstgespräch, sowie immer eine gewisse Qualität des Gesprächspartners.
Kurzum: Ein Individuum ist also ein Mensch mit Selbstbeherrschung und guter Selbst(er)kenntnis. Ist der Mensch zwischen seiner Leidenschaft und Vernunft hin und her gerissen, kann er verzweifelt sein - er fällt in Zwei.
Jede:r von uns kennt es sicher: aus Diskussionen - seien sie zu zweit oder mit mehreren Menschen geführt - können neuen Sichtweisen, Meinungen und auch Lösungen für entstandene Aufgaben entstehen. Der Diskurs kann konstruktiv, tiefsinnig und spannend sein, wenn jeder Mensch in der Runde den anderen Menschen und dessen Meinung respektiert und akzeptiert. So hört man einander zu, inspiriert sich gegenseitig und, das Hauptsächliche eigentlich, bleibt offen für neue Sichtweisen, für Veränderung.
Ruht eine Diskussion auf der Dominanz des Egos der einzelnen Menschen, kommt es sehr wahrscheinlich zu einer Kakophonie der reflexartigen Reaktion aus Angst, Zweifel und Unzufriedenheit., getarnt womöglich mit passiv-aggressivem Smiley-Emoji. Kennt sicher jede:r Leser:in aus fast jedem Social Media Beitrag und den Kommentaren darunter.
Nun zur Architektur.
Mitte Oktober 2020 gab es eine Führung durch Vrin mit Gion. A. Caminada in Rahmen des Projektes 52 beste Bauten, organisiert von Ludmila Seifert, der Geschäftsführerin des Heimatschutzes Graubünden.
Ein Dorf, in dem jedes Haus doch so individuell gestaltet ist und trotzdem noch aus dem Dialog heraus zu seinen Nachbarn, zur Umgebung. Es ist ein atmosphärisches Dorf, ohne einen einzigen geteerten Weg (ausser der Dorfstrasse), ohne hohe Hecken oder Zäune um die einzelnen Grundstücke, dafür mit mehr aufeinander abgestimmten Vorgärten und malerischen Landschaften, die keine Flachdachneubauklotze aus dem Kontext herausreissen.
Gion A. Caminada spielte also in dem Gestaltungsprozess des Dorfes nicht nur die Rolle des Architekten, sondern weit hinaus andere bedeutende Rollen:
-des Mediators,
-des Philosophen,
-des Diskursmoderators,
-des Schlichters,
-des Politikers,
-des Netzwerk-Managers und viele weitere…
Die Atmosphäre des Dorfes, der kleinen verwinkelten Strässle dort, der alten und neuen Häuser dort kann ich so beschreiben, wie ich einst vor 3 Jahren über die Gassen in der Konstanzer Altstadt schrieb:
„So begehe dieses Dorf ich dann und bewundere diese alten Häuser, die sich zu mir wenden. Sie flüstern, erzählen. Einige singen mir hinterher aus ihrem starken Charakter heraus! Sie tragen so viele Geschichten an den Fassaden und in ihren Inneren! Diese wunderbaren Zeitzeugen. So warm und behaglich, so geborgen und gut fühle ich mich bei euch.“
Deshalb noch mal die Fragen: Wie ist es möglich, dass heute so viele Wohn-Maschinen gebaut werden? Diese Wohn-Maschinen, die, in meinen Augen, schlichtweg over-ingenierte leb- und einfallslose „quadratisch-praktisch-gut“ Flachdach-Narzissten sind, die angeblich komplett auf die Bedürfnisse der Nutzer abgestimmt und optimiert sind.
Und wenn es so ist, wo ist dann dabei Platz für Atmosphäre und für das Unperfekte, Unreine, Heterogene zu finden?
„Die Fähigkeit des Menschen, anderen Verletzungen zuzufügen, ist gerade deshalb so gross, weil unsere Fähigkeit, uns ein angemessenes Bild von ihnen zu machen, sehr klein ist.“ Elaine Scarry
Das heutige Zitat von Elaine Scarry ist aus dem Buch von Carolin Ecke „Gegen den Hass“.
Der Inhalt des Buches ist packend, hervorragend recherchiert und bildend.
Also bildend für mich u. A. im Sinne, dass ich bei mir selbst einige extreme Ansichten entlarvt und aufgearbeitet habe. Eine sehr empfehlenswerte Lektüre.
Ich habe mich gefragt, welches Gefühl könnte dazu führen, dass es mich unfähig macht, ein angemessenes Bild des Anderen zu machen und warum?
Das Gefühl, meiner Meinung nach, wäre definitiv der Hass, aus welchem dann die Gewalt, sowohl eine körperliche als auch psychische hervorgeht.
Woher kommt eigentlich der Hass und wie unterscheidet er sich von Wut?
Hass und darauf folgende Gewalt geschieht oft an Menschen, die der Normvorstellungen nicht entsprechen oder einfach an Jemandem, der*/die* anders ist, als es normal wäre.
Was ist denn „normal“ und was wäre denn „die Norm“?
Ich erkläre es für mich so, dass mein Gehirn alle Informationen, die es bekommt, versucht zu vereinfachen. Es liebt einfache Lösungen. Daher ist dieses Schubladendenken zwar eine sehr enge scheu-klapprige Angelegenheit, doch aber eine recht komfortable:
Kommt ein Mensch, Schublade der Normvorstellung auf, Abgleich, Mensch rein, Schublade zu. Fertig!
Ja, es ist auf den ersten Blick bequem, doch dadurch, dass so ein Denken keine tiefe Freude, keine Fantasie und Wissbegierde zulässt, wird es auf Dauer öde.
Das könnte ich vielleicht an einem zentralen Deckenauslass mitten im Raum erklären, der zum Zweck des Sehens unter dem Licht geplant ist. Er ist da, um eine Leuchte anzuschliessen und wenn sie leuchtet, wird der Raum hell.
Doch das Licht ist müssig, langweilig und ungemütlich! Ich wette drauf, dass viele, die diese Zeilen lesen, solche Leuchten in ihren Räumen sehr selten einschalten. Und egal, wie schön Deine Leuchte aussieht, das Licht bleib ungemütlich.
Fängt man an sich zu fragen: „Wo in dem Raum und welches Licht brauche ich und warum?“, kommt eine Reihe Erkenntnisse, die ein intensives Nachdenken zwar voraussetzen, am Ende aber eine Vielfalt der Lichtstimmungen im Raum erzeugen und es einem gemütlich machen. Es ist dann einfach individuell.​​​​​​​
In der Gesellschaft funktioniert es ähnlich wie mit dem Deckenauslass in der Mitte.
Die heutige gesellschaftliche Vorstellung, wie die Rolle einer Frau und die eines Mannes ausgelebt werden soll, ist also immer noch viel zu eng scheu-klapprig festgelegt. Sie hat sich im Laufe der Zeit zwar gewandelt, sagen wir mal eher gelockert, ist doch leider immer noch nicht liberal genug, dass man sich von den traditionellen Bildern lösen kann, wie z. B. dass die Haushalt- und Carearbeit immer noch als unbezahlte und selbstverständliche Aufgabe [gell? ich mach hier ein wenig auf plakativ] einer Frau bleibt und weniger des Mannes.
Die Normvorstellung steckt in den Köpfen der Menschen fest, aus Angst vor Veränderung und somit verbundener Instabilität und Selbstzweifel.
„People don’t know what they like, but they like what they know.“
Hat man ein Bild, muss man nicht mehr nachdenken, weil so gibt es nur eine einzige Wahl - das ist die Norm. Wie eine Klette. Doch das Naturgesetz ist nun mal so, dass die Veränderung das Einzige in unserer Welt ist, was beständig bleibt. Deshalb geschieht diese Diskrepanz zwischen der Wunschvorstellung der Stabilität einer solchen Gesellschaft und der Wirklichkeit in der Natur.
Hass und darauf folgende Gewalt, so denke ich, ist ein Produkt aus Angst, Zweifel und Ignoranz.
Ignoriert man eigene Ängste und überhaupt Gefühle und Emotionen, stumpft man ab und hört auf, über sich selbst nachzudenken. Empathie und Gewissen rücken in den Hintergrund, wenn sie nicht gar verschwinden. So beginnt sich ein fruchtbarer Boden für Hass zu verbreiten: Alle und Alles, was nicht ins Schwarz/Weiss Bild so eines Denkenden passt, wird gehasst, gedemütigt, bekämpft und vernichtet.
Und genau dieses Gefühl, also der Hass, macht die Fähigkeit des Menschen ein angemessenes Bild des Anderen zur Nichte.
Ich bin nicht einverstanden, dass diese Misogynie der Gesellschaft mich, als Frau und somit auch als Mensch demütigt, mich an mir zweifeln und von mir selbst schämen lässt. Ich habe also zurecht was dagegen, dass „das Normale“ nur ein sehr enger Rahmen ist, in den mich die gesellschaftliche Erwartungen zu stecken versuchen.
Ja, zurecht, weil in der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft 2. Titel: Grundrechte, Bürgerrechte und Sozialziele 1. Kapitel Schwarz auf Weiss steht: Grundrechte Art. 8 Rechtsgleichheit 3 Mann und Frau sind gleichberechtigt. Das Gesetz sorgt für ihre rechtliche und tatsächliche Gleichstellung, vor allem in Familie, Ausbildung und Arbeit. Mann und Frau haben Anspruch auf gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit.
Diese Diskrepanz zwischen dem, was in der Verfassung steht und dem, was die Wirklichkeit mir bietet, macht mich wütend und das ist gut so!
Wut und Ärger sind, meiner Meinung nach, die Wächter des Widerstandes gegen Überschreitung eigener Grenzen oder gegen Ungerechtigkeit, die einem geschieht. Wut und Ärger sind Träger einer Möglichkeit über sich selbst nachzudenken, sich zu verstehen und eigene Sichtweise/ Wahrnehmung zu verändern. Aber auch sich zu wehren, Mut zu haben eigene Grenzen abzustecken und zu verteidigen. Nutzt man die Chance und verändert sich und seine eigenen Gewohnheiten, kommt man eine Stufe weiter auf dem Weg der Persönlichkeitsentwicklung. Ignoriert man diese Chance, so macht man einen Schritt näher zum Hass und somit der Aggression und Zerstörung.
"Zum zivilen Widerstand gegen den Hass gehört für mich auch, sich die Räume der Phantasie zurückzuerobern. Zu den Dissidenten-Strategien gegen Ressentiment und Missachtung gehören auch, und das mag, […], überraschen, die Geschichten vom Glück.“ Carolin Ecke „Gegen den Hass“
Also lasst uns, statt als nur ausgewachsene Menschen, lieber reife ausgewachsene Kinder sein, mit Leben und Entschlossenheit in den Herzen, mit einer lebhaften und phänomenalen Vorstellungskraft und der Fähigkeit für sich selbst, ihr eigenes Handeln und Gedankengut Verantwortung zu tragen. Lasst uns die Veränderung selbst sein.

Peace.
“A house is not a machine to live in. It is the shell of man, 
his extension, his release, his spiritual emanation." Eileen Gray
In der Schule, etwa in der 5 oder 6 Klasse, habe ich einen Spruch von meinen Klassenkolleg*Innen gehört: „Sag mir, wer Dein*e Freund*In ist und ich sag Dir wer Du bist“. Fand ich super und habe es gleich für mich weiter verwendet: „Zeig mir, wie Du wohnst und ich sag Dir, wer Du bist“.
Ich hatte eine Idee, die mich nach 28 Jahren immer noch beschäftigt. Die Idee besteht darin, Lebensräume zu gestalten, die dem Menschen ermöglichen, sich zu entfalten, sich wohl zu fühlen. So, wie jede*r sich individuell vorstellt. Das heisst, ein Raum soll weniger diktieren oder Dich dazu zwingen, wie Du zu leben hast.
Er dient eher dafür, dass Du und Deine Lieblingsdinge ein Zuhause findet und man sich Daheim fühlt.
Im Endeffekt, wenn ich etwas gestalte, gestalte ich die Atmosphäre [mit]. Je nach Intensität meiner Auseinandersetzung während des Gestaltungsprozesses mit mir selbst und mit dem, was ich kreiere, kommt die Atmosphäre meines Stils und dessen Ästhetik deutlich oder weniger deutlich zu spüren.
Viele Jahre später spazierte ich durch die Konstanzer Altstadt und merkte, wie die Altbauten, diese ungeraden Strassen und diese Patina an den alten Fassaden mir ihre Geschichte erzählen. Ich fühlte mich behaglich damit und dachte drüber nach, wo genau kam diese Behaglichkeit her?
Für mich lag die Antwort an der charaktervollen, detailreichen und so zueinander passender / aufeinander abgestimmter und doch in sich sehr individuellen Architektur-Nachbarschaft. Zeitzeugen der Epochen-Stile, die gleichwohl zeitlos sind.
Etliche Neubauten erzählten mir auch eine Geschichte. Sie versuchen schlicht und rein zu sein und zeigen mir auf, wie eine subtile Diktatur der Gier nach mehr Geld die Naturlandschaft umgestalten kann. Schlichtheit, Reinheit (in Weiss), Homogenität, klar und geradlinig, all das sind Worte, die mich innerlich unbehaglich werden lassen.
Haben wir was vergessen?
Wie ist es möglich, dass es heute so viele Wohn-Maschinen gebaut werden? Diese Wohn-Maschinen, die, in meinen Augen, schlichtweg over-ingenierte leb- und einfallslose „quadratisch-praktisch-gut“ Flachdach-Narzissten sind, die angeblich komplett auf die Bedürfnisse der Nutzer abgestimmt und optimiert sind.
Und wenn es so ist, wo ist dann dabei Platz für Atmosphäre und für das Unperfekte, Unreine, Heterogene zu finden?
“Bei gleicher Umgebung lebt doch jeder in einer anderen Welt.“ Arthur Schopenhauer "Aphorismen zur Lebensweisheit“
Gibt es eine weibliche* und eine männliche* Sicht auf die Dinge? Und ab wann ist es dann einfach nur eine menschliche Sicht auf die Dinge?

Als ich etwa 15 Jahre alt war, hatte ich eine Freundin. Wir haben zusammen „Queen“ gehört, philosophiert und gezeichnet, über Menstruation und Angst vor Tampons gesprochen. 
An einem sonnigen Mai-Tag nach der Schule sind wir beide zum Strand gegangen, zumal von der Schule waren es damals nur 3 Minuten zu Fuss. Hanna und ich sind dann am Fluss entlang gelaufen und haben uns darüber unterhalten, wie es wäre, wenn wir keine Eltern hätten - herrlich die Vorstellung, dass man alles dann machen dürfte und konnte und niemand hätte rein geredet, geschimpft oder etwas verboten! Wir waren in unser philosophieren so sehr vertieft, dass wir es nicht gemerkt haben, als uns ein Auto mit 5 Jungs knapp Ü-20 bald ein- und überholte.
Jeder der Jungs hat sich erlaubt uns anzupfeifen und irgendwelche blöde Anmachen heraus zu schreien. Davon verstand ich nicht viel, war ja schliesslich mit „Queen“ und mit der Freundschaft mit Hanna schwer beschäftigt.
Ich hab automatisch meinen Stinke-Finger ausgepackt und den Jungs hinterher gezeigt. Was ich nicht beachtet hatte war, dass sie es noch sehen konnten, was ich zeige, da das Auto noch nicht weit weg von uns war. Das Auto bremste, ein kräftiger durchtrainierter junger Mann stieg aus und rannte auf mich zu.
„Ich gehe Hilfe holen“ - sagte Hanna und verschwand irgendwohin, wo sie Menschen anquatschen konnte wegen der Verstärkung, damit mir nichts passierte.
Ich stand da und hörte mein Herz rasen.
Der Junge war zwei Köpfe grösser als ich, stand mir gegenüber und machte mir klar, dass es mein Fehlverhalten war ihm einen Stinke-Finger zu zeigen. Ebenso wollte er mir sagen, dass ich dafür gleich büssen werde und ich konnte seinen Atem an meiner Nase spüren.
Meine Knien sind weich geworden und ich konnte kaum mehr stehen. Bald war es mir egal, was mit mir passieren wird.
Für mich war ich schon tot.
Und dann hörte ich mich plötzlich sagen: „Versuch es nur, Du Feigling! Klar, kannst mich jetzt zusammen schlagen, doch so eine Tat wird sicher nicht eine von Deinen ehrenhaftesten sein. Denn wer die Schwächeren schlägt, kann ja nicht so klug sein!“
-„Vorhang zu, Adieu Mama“ - dachte ich in dem Moment und fragte mich, warum ich, zum Teufel sowas sage.
Der Junge stand irgendwie da, als ob er versteinert wäre.
Dann sagte er mir, er wolle kurz nachdenken und zündete eine Zigarette an, fragte, ob ich auch eine rauchen mag.
Wort für Wort haben wir beide zum Schluss über irgendetwas belangloses gelacht und in dem Moment tauchte Hanna auf und fragte, ob alles in Ordnung sei, sie würde gern mit mir schwimmen gehen.
„Du bist ein cooles Mädle, lass uns Freunde werden“ - fragte mich der Junge.
„Danke, nicht interessiert.“ da ich nicht wusste und daran zweifelte, ob er „Queen“ mag!
Hanna und ich sind dann schwimmen gegangen und die Jungs sind weiter gefahren.
Es war so menschlich.
„Es geht nicht darum, ständig neue Länder zu bereisen, sondern die Welt mit anderen Augen zu sehen.“ Marc Aurel“ Marc Aurel
Ein heisser Sommertag.
Ferien in der Schule und wir beide sind unterwegs.
Wir sind Marianna, meine Kollegin aus der Schule, und ich.
Beide sind im Alter von etwa 12-13 Jahren.
„Es wäre super, wenn wir jetzt  Weintrauben hätten! Hab Hunger.“ - sagte sie zu mir und in dem gleichen Moment erinnerte sie sich an etwas, „hey, weisst Du, wo diese Garagenreihen sind, wo Tanja wohnt? Dort gibt es Weintrauben zuhauf!“
„Na, dann los!“ - sagte ich und freute mich auf die leckeren Trauben, denn ich hatte auch Hunger.
Diese Garagenreihen sind etwas total typisches für die damalige Zeit in der Ukraine, sowie jedes von der Sowjet Union regierte Land. Eine Garage zu haben war etwas Magisches, etwas total privilegiertes, denn es würde bedeuten, dass man ein Auto hat. Ui! Wichtig!
Aber nicht nur deswegen.
Für viele Menschen, hauptsächlich männliches Geschlechtes, war so eine Garage wie ein Kraftort, ein Rückzugsort von jeder möglichen Störung des Alltages. Manche hatten dort ständig etwas gebastelt, repariert oder neu konstruiert  - fast wie Steve Jobs, bis auf den Fakt, dass es verboten war ein eigenes Unternehmen zu haben.
Andere haben sich dort gerne vor ihren Ehe-Frauen oder Schwiegermüttern versteckt, um ungestört etwas hochprozentiges konsumieren zu können.
Nun waren Marianna und ich auf dem Weg dorthin, wo es diese süssen und saftigen Weintrauben in Unmengen gab.
Ich hatte mittlerweile in meinem Kopf nichts anders mehr als nur das Bild, wie ich sie esse und wie es mir gut geht.
Angekommen haben wir fest gestellt, dass der Zugang zu den Garagenreihen abgeschlossen war, was für uns beide natürlich kein Problem bedeutete.
Rüber geklettert haben wir uns zuerst mal umgeschaut, ob dann doch irgendein Wächter irgendwo sitzt und das Areal bewacht. Oder ob irgendeiner mit seinem Drink uns eventuell beobachten könnte.
Die Luft schien rein zu sein, also kletterten wir beide auf die Dächer dieser Garagen und gelangen zu unserer Beute.
Ich weiss heute noch, es gab Stellen, wo es viel Brennnesseln gab und wilde Rosengebüsche so hoch waren, dass sie über die Dächer der Garagenreihen hinaus ragten.
Marianna riss einen Witz nach dem anderen und wir lachten mit vollen Munden bis …
Bis eine bedrohliche männliche Stimme uns ganz laut beschimpfte und gleich anfing uns zu drohen:
„Hey, was macht ihr da? Kommt runter und kriegt Prügel von mir, das ist doch ein Diebstahl, das gibts doch nicht!!!“
Es war ein alter dicklicher Mann mit einer Wampe statt eines Bauchs. Wahrscheinlich sah er seinen Allerwertesten nur im Spiegel, so hochschwanger wie er war … Sein Gesicht war rot vor Wut, sowie wahrscheinlich der Rest seines Körpers, wenn er nicht  voll behaart wie ein Gorilla gewesen wäre. In der Hand einen Stock so gross wie ein Baseballschläger.
Marianna und ich rannten weg und stellten kurze Zeit danach fest, dass wir nicht mehr durch die Garagentür kommen würden. Der rote Gorilla stand bereits dort und fuchtelte mit seinem Stock. Also bleib uns nichts anderes, als auf den Dächern zu bleiben und so weg zu rennen.
Durch die Brennnesseln und diese Wildrosengebüsche wars keine schöne Geschichte… Doch was soll’s, es war immerhin besser als eine Tracht Prügel von irgendeinem roten Gorilla mit Wampe zu bekommen.
Ja, es ist uns gelungen weg zu rennen und ja, es hat sich gelohnt, die Weintrauben zu klauen, die waren nämlich lecker.
Ich glaub, paar Wochen oder Monate danach war ich wieder dort und habe mir einfach mal den Tatort angeschaut.
Und dann nicht schlecht über mich selbst und den Adrenalinschub gestaunt, den ich beim Abhauen hatte.
Die Abstände zwischen den Garagendächern waren ziemlich gross, sodass ich Gänsehaut bekam, als ich mich fragte, wie ich ohne Bedenken einfach von Dach zu Dach gesprungen war.
Nun, 27 Jahre danach sitze ich in meiner schönen gemütlichen Wohnung, auf meiner Dachterrasse wachsen Weintrauben und mir kommt eine Frage: mit welchen Augen sah ich die Welt damals? Hatte ich irgendeine Ahnung, dass ich eine Frau bin und gesellschaftlich gesehen mich so unanständig nicht verhalten dürfte?
Mit welchen Augen sehe ich diese Welt nun in der Gegenwart? ….
Gute Frage!

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